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Neulich am Nikolaustag

Santa Claus Inc.

Ort: Demre, Türkei, St. Nikolaus Kirche bzw. Father Christmas Museum Zeit: 22.11.2020, 8.30 Uhr Personen: Nikolaus, Knecht Ruprecht, diverse Subunternehmerinnen, ein Tourist, eine Touristin, die Security, bewaffnete Angehörige der türkischen Polizei*

Szene 1 Im Hauptraum der Kirche Nikolaus steht auf einem Podest auf der rechten Seite des Hauptraums der ehemaligen Kirche und macht sich bereit einen mediengestützten Vortrag zur Organisation der Saison 2020 zu halten. Er nestelt an einem Laptop herum, seine Miene wirkt zunehmend angestrengt, schließlich ärgerlich. Ebenfalls auf dem Podest befindet sich eine Touristin. Sie geht langsam um Nikolaus herum und filmt ihn mittels ihres Mobiltelefons. Nikolaus bedeutet ihr mehrfach gestisch und mimisch, sich zu entfernen. Das erwidert die Touristin stets mit einem Lächeln und damit, dass sie ihm mit der freien Hand eine Foto- und Filmlizenz entgegenhält.

Touristin (sehr laut): Look, look, it’s payed! I’m allowed! Look!

Nikolaus macht erneut stumm eine abwehrende Geste.

Touristin (sehr laut): Selfy? With you? Yes, yes, yes? Look, look, it’s payed! Make smile! Looky, looky!

(Sie nickt dabei schnell und heftig mit dem Kopf und sieht, Bestätigung suchend, in den Raum vor dem Podest.)

Der Raum ist gefüllt mit einer Vielzahl von Menschen, die sich zum Teil angeregt unterhalten, dann und wann aber einen Blick zum Podest werfen, um zu sehen, wann es losgeht. Die Menschen tragen verschiedene Nikolauskostüme, die es geübten Betrachterinnen erlauben, sie verschiedenen Kulturkreisen zuzuordnen. An der Kleidung befestigt sind auf Brust und Rücken große Schilder mit 7-stelligen Nummern, Namen und Abbildungen von Landesflaggen.*

Ein Tourist betritt den Raum, stutzt angesichts der versammelten Menge, schüttelt den Kopf und geht dann geradewegs auf den ausgestellten Sarkophag des Heiligen Nikolaus zu, platziert auf dessen Deckel eine Ikone und eine Kerze. Er bekreuzigt sich, zündet die Kerze an, bekreuzigt sich noch einmal, kniet nieder und beginnt ein Gebet.

Nikolaus tritt an den Rand der Bühne, nimmt vom Boden ein kabelloses Headset auf, schaltet es nach kurzem suchenden Betrachten des Gerätes ein. Er klopft auf das Mikrofon, ein lautes dumpfes Geräusch erklingt im Raum. Nikolaus setzt das Headset auf.

Nikolaus: Ruprecht, bitte zur Bühne, Ruprecht, bitte!

Durch die Menge im Raum geht zunächst eine Welle der Bewegung, Köpfe drehen sich nach hinten, von wo sich eine große Person, augenscheinlich männlichen Geschlechts, eine Schneise durch die stehenden Menschen bahnt. Hier und da wird geklatscht und gepfiffen. Am Podest angekommen, springt die Person schwungvoll hinauf, dreht sich zum Publikum um und reckt strahlend beide Arme in die Höhe. Jubel brandet auf.

Ruprecht: Hallo Demre! Publikum: Hallo Ruprecht! (Jubelschreie, Pfiffe, Johlen)

Ruprecht: mit beiden Armen dem Publikum bedeutend, zur Ruhe zu kommen. Danke Demre für diese 15 Sekunden. Wie ihr seht, ist der Chef noch nicht ganz mit den Vorbereitungen für seine heutige Keynote fertig, aber bald ist es soweit. Noch ein klein wenig Geduld. Das Catering ist auch gerade angekommen und serviert in Kürze einen kleinen Willkommenstrunk. Ruprecht sieht sich im Raum um, scheint schließlich gefunden zu haben, was er suchte. Er winkt mit den Armen eine Aufforderung herbei zu kommen.

Ruprecht: Hej, Technik! Macht, dass ihr auf die Bühne kommt! Und Rudi soll diesen HDMI auf VGA Adapter mitbringen!

Nikolaus schenkt Ruprecht einen erleichterten Blick und bedeutet ihm, seine Schulter fassend, mit ihm das Podest zu verlassen, das inzwischen von einer größeren Gruppe technischen Personals gefüllt wird.

Ruprecht wendet sich im Gehen noch einmal um, zeigt auf die Touristin.

Ruprecht: Und du verpiss dich endlich, sonst zeigt die Security dir den Weg.

Touristin: Look, look, it’s payed! I’m allowed! Look! (wedelt dabei mit dem Formular)

Ruprecht: Frank, Deborah, Deniz? Wo seid ihr? Kundschaft!!

Wieder bildet sich eine Schneise in der Menge, diesmal von der linken Seite aus. Frank, Deborah und Deniz bringen, auf dem Podest angekommen, die Touristin unter allgemeiner Belustigung vom Podest herunter und dann nach rechts hinaus.

Szene 2 vor der Kirche Nikolaus und Ruprecht umarmen sich herzlich

Ruprecht: Babbo! Alter! Habibi!

Nikolaus: Yalla Brudi! Was geht Bro?

Ruprecht: Wie geht es dir, alter Mann? Wie ist das Hotel, wie lange bist du schon hier?

Nikolaus: Ich bin schon vorgestern angekommen, wollte die alte Heimat erst mal erkunden. Und das Hotel ist super, nur 500 Meter von hier und hat eine erstklassige Bar, auch wenn der Name Pink Flamingo Bar das nicht vermuten ließe.

Ruprecht: Krass, dann sind wir ja Nachbarn. Ich bin erst vorhin angekommen, habe nur eingecheckt und bin sofort hier her. Lass heute Abend zusammen einen Trinken!

Nikolaus: Ach Rupi, ich glaub ja nicht, dass wir dafür Zeit haben. Es gibt noch so vieles zu planen und zu organisieren. Und das mit all diesen unbekannten und unberechenbaren Faktoren. Ich weiß nicht. Mir brummt schon der Schädel, so viel denke ich nach, wie das dieses Jahr alles klappen soll. Ich bin so froh, dass du da bist!

Ruprecht: Du meinst wegen der Seuche? Ich bitte dich! Hast du gesehen, wie viele Leute ich zusätzlich angeheuert habe? Das klappt schon, memm mal nicht rum! Du bist doch sonst nicht so!

Nikolaus: Hast du dir die Gestalten mal näher angesehen? Anscheinend nicht, denn dann wärest du ja nicht so optimistisch. Wo hast du die eigentlich alle aufgetrieben? Die sehen nicht gerade überzeugend aus! Und außerdem habe ich nur Nikoläuse gesehen. Was ist mit Knechten? Was ist mit Schlitten? Wo sind die Bücher? Das glaubt uns SO doch keine Menschenseele! (Nikolaus redet sich langsam in Rage) Und hast du mal mit einem von denen geredet? Ich frage mich, warum die diese Fahnen anbappen haben! Gut die Hälfte von denen kennt ja nicht mal ansatzweise die Landessprache der jeweiligen Nation!

Ruprecht: OK, langsam und der Reihe nach. Atme mal ruhig durch, du bist ja völlig aus dem Häuschen, dem Häuschen vom Nikoläuschen. (stupst dabei Nikolaus freundschaftlich am Oberarm an und lacht) Also: Knechte kommen erst morgen, die lernen wir auf der Messe im Murat Hotel kennen. Das müsstest du eigentlich in deinem Kalender stehen haben. Sowohl die Läuse als die Knechte machen gerade Intensiv-Integrationskurse, zumindest in den Ländern, in denen die angeboten werden. Alle anderen sind in Kurse der Folkehøjskole in Dänemark, den Landvolkshochschulen in Deutschland und der ila in Frankreich gebucht. Unterrichtet werden sie von Native Speakern, die wir in Flüchtlingslagern angeheuert haben, da kommen die Nikoläuse und die Knechte übrigens auch her, die sind aber noch nicht so lange da. Das ist hier noch die Sektion Europa, alle anderen Kontinente außer Asien, aber das ist ja gleich um die Ecke, habe ich schon letzten Monat durch, als du in Bad Gastein warst, wie jedes Jahr. Ist der feine Herr jetzt zufrieden, können wir uns beruhigen?

Nikolaus: Und die Bücher? Was ist mit den Büchern?

Ruprecht: Die lagern an tausenden Orten in extra angemieteten Lagerboxen. Auf Paletten, goldene und schwarze hübsch getrennt, alles übersichtlich, da gibt es kein Vertun. Das mittlere Management hat seinen Job - wie immer- gemacht. Und bevor du fragst: Nein, ich habe keine Prämien versprochen. Die sind einfach motiviert, die lieben dich einfach.

Nikolaus: Und was ist mit Schlitten?

Ruprecht: Haben wir gebraucht gekauft, gibt es massenhaft bei Ebay, kann man ohnehin kaum irgendwo noch verwenden. Außerdem haben wir reichlich Boote angeschafft und wir werden von namhaften Automobilherstellern mit Transportern versorgt. Für die ist das unglaublich gute Werbung und für uns auch.

Nikolaus: Wieso ist das für uns Werbung?

Ruprecht: Na, wie sähen wir aus, wenn unsere Subunternehmer*innen ihre Fahrzeuge genauso selbst stellen müssten wie die der Paketdienstleistungsunternehmen. Ich bitte dich, denk an dein Image! Du schaffst ganz nebenbei Arbeitsplätze in der Autoindustrie. Wenn das nichts ist! Hier ist schon ein Dankschreiben der Deutschen Bundesregierung eingetroffen, hast du das noch nicht gesehen?

NIkolaus: Und was ist mit Geschenken?

Ruprecht: Auch gar kein Problem. Wir haben einen Vertrag mit Jeff abgeschlossen, dass wir deren Retouren übernehmen und kostenlos entsorgen. Die anderen Versandhändler haben dann natürlich sofort nachgezogen und wir haben für eine mittelfristige Lösung eines globalen Entsorgungsproblems gesorgt, das für gewaltige Schlagzeilen gesorgt hatte. Dafür bist du übrigens als Umweltaktivist für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden. Schreib dir schon mal den Termin in deinen Kalender.

NIkolaus: Und was ist mit Ruten?

Ruprecht: Also jetzt machst du mich wirklich traurig! Wie kannst du das fragen? Du, als einer der Erstunterzeichnerinnen der Kinderrechtskonvention? Wirst du langsam senil? Glaubst du wirklich, ich mach noch den Drecksjob für dich? Ohne Urlaub? Ohne feste Arbeitszeiten? Ohne Tarifvereinbarung?*

Deborah vom Securityteam betritt die Szene.

Deborah: Entschuldigt, dass ich auch unterbreche, aber wir wären jetzt so weit.

Ruprecht: (brüllend) UND JA, DIE POWER POINT IST AUCH FERTIG! MIT TON!

Szene 3 in der Kirche Nikolaus hat seinen Platz auf dem Podest eingenommen, hinter ihm leuchtet bereits ein großes Display mit der Startseite seiner Präsentation. Ruprecht steht in einiger Entfernung leicht versetzt neben ihm, bereit die Übersetzung in Gebärdensprache zu übernehmen.

Nikolaus Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!

Ein Trupp bewaffneter Polizisten stürmt unter lautem Rufen den Raum. Es werden Gummigeschosse abgefeuert, Nebelgranaten geworfen und Tränengas wird versprüht. Die anwesenden Nikoläuse geraten in Unruhe, wenn nicht Panik. Der Anführer des Polizeitrupps weist schließlich auf den betenden Touristen an der Seite des Kirchenraums. Dieser wird zu Boden geworfen, wo er immer noch betet, gefesselt und schließlich aus dem Raum gezerrt. Nikolaus steht mit Tränen in den Augen auf der Bühne und wendet sich zu Ruprecht.

Nikolaus: Was war das denn?

Ruprecht: (Sieht auf sein Mobiltelefon.) Twitter sagt, ein neues Gesetz in deinem Heimatland. Ist aber ohnehin alles egal. Gates meldet, der Impfstoff sei doch erst im Juli soweit und ich hab die MNS vergessen. Scheiße. Verdammte Scheiße.

von gestern

Wenn dich am Morgen, mal nicht die Sorgen, sondern Musen küssen, in wohligem Nicht-Aufsteh´n-Müssen, ist Vorsicht angesagt:

Diese Musen: echt von gestern, liebe Brüder und auch Schwestern, die manchmal dazu neigen, trotz Hochglanz-Großformatanzeigen, und trotz Warnhinweisplakat,

statt eifrig sich zu optimieren, sich hier und da was hin zu schmieren, bis nach dem späten Mittagessen, das Zähneputzen glatt vergessen, und statt Superfoodsalat,

einen richtig feisten Schinken, nicht über Kochen oder Schminken, und noch nicht mal illustriert, weil sie das heut´ nicht int´ressiert, aus dem Hut, der akkurat,

im Buchregal platziert bei H, vom Brett vor I und J und K, ziehn, dann damit fächeln, und mit Samstagmorgenlächeln, geben dir den guten Rat:

„Geh heute einfach nicht ins Bad. und statt der Eiweiß-Pancakes brat, Erzählungen, Roman, Sonett, das geht wirklich auch im Bett.“

kopfüber in den wörtersee

sprachgefühl wortgewühl gefühle sprechen verse brechen

wörter sieben liebe worte worte lieben neue orte

feder wetzen sätze setzen lettern stechen zeichen sprechen

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seelen fliegen

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